Die Last mit der Lust

Die Stimme der reifen Frau am Telefon ist sehr locker und symphatisch. Sie hatte ihr ganzes Leben lang noch keinen besonderen Spaß am Sex. Ihr ebenfalls reifer Partner hätte aber gern, dass sie Spaß  am Sex  hätte. Sie aber sagt: „Wissen Sie, das macht mir gar nichts aus. Mein Leben ist wunderbar, Sex interessiert mich einfach nicht so. Einen Orgasmus hatte ich noch nie, aber ich vermisse ihn nicht.“ Dabei lacht sie. Verdrängung in Reinkultur.

Nach inzwischen zwanzig Jahren Erfahrung mit der Sexualtherapie ahne ich, was möglicherweise dahinter steckt: sexuelle Reperession, vielleicht ein Trauma. Wohl sind Menschen durchaus verschieden triebstark von Natur aus, aber zum Beispiel eine Orgasmusstörung  ist bestimmt nicht angeboren, sondern wird erworben.

Frage ich eine neue Klientin, ob sie einen Orgasmus bekommt, erhalte ich sehr häufig die Antwort: “Ich weiß nicht.“ Wenn eine Frau nicht weiß, ob sie einen Orgasmus bekommt, dann kennt sie keinen. Wer einen bekommt, weiß auch, was ein Orgasmus ist. Häufiger ist die Antwort: „Wenn ich es mir selber mache, dann geht es!  Am liebsten mit der Dusche. Mit Partner muß ich mich sehr anstrengen.“ Aber viele Frauen täuschen einen Orgasmus vor, damit der Mann sich als toller Hecht vorkommt, sie „ihre Ruhe haben“ und lästige Diskussionen vermieden werden. Viele Männer fühlen sich aus Mangel an Information nämlich als Versager, wenn Frau keinen Orgasmus bekommt – dann haben sie „es“ nicht gut genug gemacht. Immer noch herrscht sehr viel Unwissen über die einfachsten Grundtatsachen der Sexualität:

Jeder ist für seinen Orgasmus selbst verantwortlich. Natürlich gibt es gute und weniger gute LiebhaberInnen, deren Künste oder Mangel derselben durchaus die Qualität unseres erotischen Erlebens beinflusst, aber wenn die Sexualität stark blockiert ist aufgrund repressiver oder gar traumatischer Erfahrungen, kann der beste Liebhaber einen solchen Menschen nicht zum Orgasmus bringen.

Veranstalte ich eine „Orgasmus“ – Workshop, dann ist der Andrang ungeheuer – viel größer als bei einem normalen Tantra – Seminar. Das Interesse bei den Menschen ist sehr groß bei diesem Thema. Es ist leider keineswegs selbstverständlich, dass jeder Mensch einen Orgasmus bekommt. Das betrifft Männer wie Frauen. Männer tendieren mehr als Frauen dazu, mir in einem Gespräch erst einmal nicht die ganze Wahrheit zu sagen – vielleicht, weil ich eine Frau bin. Sehr viele Männer leiden unter Ejaculatio praecox, dem vorzeitigen Samenerguss, der auch eine Anorgasmie darstellt, die am meisten verbreitete männliche Variante, neben den Erektionsstörungen.

Wenden wir uns zunächst der Orgasmusdefinition  von Wilhelm Reich zu, der verkannteste, geleugnetste Psychotherapeut des Jahrhunderts, an keiner Universität gelehrt, trotz seiner unbestreitbar wertvollen Erkenntnisse zum Thema der Neurosebildung, vor allem was die Zusammenhänge zwischen sexueller Blockierung und psychischer Charakterstruktur betrifft. Er war der erste, der den Orgasmus wissenschaftlich definiert hat. Für den, der sich für dieses Thema interessiert, ist sein Buch „Funktion des Orgasmus“ die Basislektüre überhaupt.

Für Wilhelm Reich gibt es, entgegen der üblichen Auffassung, keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Orgasmus. Ich zitiere: „Die Aktivität der Frau unterscheidet sich normalerweise in nichts von der des Mannes. Die weit verbreitet Passivität der Frau ist krankhaft, meist Folge masochistischer Vergewaltigungsphantasien.“  Lassen wir den letzen Satz einfach mal stehen in seiner ganzen Provokation und wenden uns den einzelnen Phasen des orgasmischen Geschehens zu:

Die erste Phase wird die Vorlust genannt

Dazu gehört  Erregung durch visuelle Reize,  durch Streicheln, Stimulieren von Brustwarzen, der Ohrläppchen, der erogenen Zonen der Frau – die Innenseite der Oberschenkel, das stimulieren vielleicht auch durch erotisierende Worte, Stimulieren des Penis´.

Es kommt bei beiden Geschlechtern zu einer erhöhten Durchblutung der Genitalien, beim Mann tritt eine Erektion ein, die Frau wird feucht…

Wichtig auch, dass diese Phase von willentlicher Steigerung begleitet wird, das heißt, das Ich spielt noch eine Rolle, hat noch die Kontrolle über das Geschehen.

Die zweite Phase ist das Eindringen  des  Lingams (tantrische Bezeichnung des männlichen Genitals), daß von beiden  als  vertiefte Lust empfunden wird. Der Drang nach rhythmischer Bewegung erhöht sich bei Mann und Frau, das Lustempfinden hängt jetzt auch stark von der Harmonie zwischen den Partnern ab – ejakuliert jetzt der Mann verfrüht, fühlt sich die Frau „verlassen“, kommt die Frau in Abwehr, was manchmal nach dem Eindringen geschieht, ist die Frustration groß für den Mann. Immer noch sind die Reizsteigerungen willkürlich, das heißt „gemacht“.

In der dritten Phase setzen die unwillkürlichen Bewegungen des Beckens ein. Hier setzt die Funktion des Ichs aus und beide werden zu einem Rhythmus – wieder vorausgesetzt, es besteht eine ungefähre Gleichzeitigkeit im körperlichen Geschehen der Partner.

Jeder kennt das – besonders schön ist es, wenn beide gleichzeitig „kommen“, aber das ist einfach nicht immer so.

An diesem Punkt ist wesentlich, ob die Liebenden fähig sind zur „orgastischen Potenz“, ein Begriff, den Reich erfunden hat im Unterschied zur erektiven Potenz des Mannes.

Sie bedeutet (Zitat): „die Fähigkeit zur Hingabe an das Strömen der biologischen Energie ohne jede Hemmung, die Fähigkeit zur Entladung der hochgestauten sexuellen Erregung durch unwillkürliche lustvolle Körperzuckung.“

Die vierte Phase ist der Orgasmus selbst; der nur dann ein Orgasmus genannt werden sollte, wenn die Empfindung ganzkörperlich ist, nicht nur genital.

Je eingespielter ein Paar ist, um so eher ist Vertrautheit da, je mehr Vertrautheit und Intimität

vorhanden ist, um so eher kann der Orgasmus ungefähr gleichzeitig einsetzen.

Die fünfte Phase ist das Rückströmen der Erregung in den Körper, ein Absinken der Spannung, die Akme. Wenn das ganze Geschehen tief befriedigend war, bleibt eine zufriedene Dankbarkeit für den Partner und ein wohliges Gefühl.

Im Anklang kennen auch sexuell blockierte Menschen ungefähr diese Phasen, aber vor allem die dritte Phase fällt schwer, wenn die bewusste Kontrolle aufgegeben werden soll.

Während meiner inzwischen zwanzigjährigen Tätigkeit als Tantra – Lehrerin fällt auf, dass die Angst vor Kontrollverlust bei beiden Geschlechtern sehr gross ist. Was Reich darüber sagt: „Kein einziger Neurotiker hat die Fähigkeit (zur Hingabe an die unwillkürlichen Bewegungen), und die überwiegende Mehrheit der Menschen ist charakterneurotisch krank.“

Kurz, zur Verständnis des Wortes Neurose: „Die Energiequelle der Neurose wird hergestellt durch die Differenz zwischen sexuellem Energieaufbau und – abbau.“ Der sexuell unterdrückte Mensch  hat immerzu eine Form von Unbefriedigtsein, die sich in allen nur denkbaren  kompensatorischen Handlungen äußert, die sexuelle Energie in ihrer degenerierten, weil ungelebten Form, äußert sich Unbefriedigtsein in anderen Lebensbereichen, als Schlaflosigkeit, als Depression, als sexuelle Form der Gewaltphantsie, manchmal auch ausgelebt als sadistische oder masochistische Präferenz, in schlimmen Fällen als Krankheit: Gebärmutterkrebs, Prostatabeschwerden, Unfruchtbarkeit bei funktionell intakten Genitalien, Brustkrebs…

Leider stimmt das immer noch, viele Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der „Funktion des Orgasmus“.  Als ich meine Ausbildung 1982 begann, um mich der faszinierenden Welt des Tantra zu verschreiben, ahnte ich nicht, wie viel von meiner Tätigkeit therapeutisch sein würde, weil so viele Menschen  sexuell blockiert sind.   Es ist ein Trauerspiel, ein Drama, daß häufig auch in seiner Tragweite selbst von den Betroffenen nicht immer angenommen wird.

In keinem anderen Lebensbereich wird soviel kaschiert, abgewiegelt, gelogen, beschwichtigt und geschönt. Die innere Ambivalenz zum Sexuellen durchzieht den ganzen Körper mit chronischen Muskelspannungen, auch in den Genitalien.

Wessen Lebensenergie gebremst ist, dessen ganzes Leben ist nicht so erfüllt, wie es ein könnte. Alles, was das Leben eben lebendig macht, ist heruntergesetzt: Gefühle überhaupt, nicht nur die sexuellen, die eigene Verwirklichung bleibt eine Wunschphantasie, der sexuell unbefriedigte Mensch ist leichter mit Schuldgefühlen manipulierbar, er ist eher eifersüchtig, neidisch  und sauertöpfisch, hat oft das Gefühl, Zaungast zu sein im eigenen Leben.

Die Ursachen sind  immer in einer sexuell repressiven Kindheit zu suchen. Immer noch sind viele Männer und Frauen mit dem Gefühl aufgewachsen, dass ein sexuelles Wesen zu sein, grundsätzlich eine Sünde ist – daran ändert auch eine leider nur scheinbar sexuell liberalere Gesellschaft wenig. Zu tief sitzt die generationenalte Verdammung der Sexualität.

„Das gehört sich nicht.“, „Das tut man nicht“, „Was sollen denn die Leute denken“, „das ist Sünde“, „Hände auf die Decke“, „Darüber spricht man nicht“ sind die Glaubenssätze mit denen immer noch die meisten Menschen aufgewachsen sind. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ Dieser Grundsatz spaltet die Menschen von ihrem Körper ab und erfüllt sie sogar unter Umständen mit Ekel und Abscheu vor den eigenen Genitalien und den sexuellen Bedürfnissen.

Da jeder Mensch als sexuelles Wesen geboren wird, ja selbst Frucht einer sexuellen Handlung ist,   fühlt er sich offensichtlich oder verdrängt, schuldig, schuldig, schuldig, wie es so schön in der katholischen Messe heißt: “Mea culpa, mea culpa, mea culpa.“

Sexuell unterdrückte Menschen missbrauchen auch eher kleine Kinder,  weil sie charakterlich unreif bleiben und im Grunde nicht in der Lage sind, eine reife, sexuell erfüllende Beziehung zu einem anderen Erwachsenen aufzunehmen. Das Meer des Missbrauchs, in dem ich wate, macht mich inzwischen krank. Damit niemand glaubt, dass ich übertreibe: In meiner Tantra – Lehrer- Ausbildung sind 80% der Frauen (mich selbst eingeschlossen) und 60%  der Männer missbraucht – auf der psychogenen Ebene noch mehr. (psychogen heißt, dass das gegengeschlechtliche Elternteil das Kind psychologisch zum Partner macht). Im letzten Frauenwochenende waren die Frauen zu 100 % orgasmusgestört!  Das läßt sich durch die G-Punkt-Massage feststellen.

Gerade jetzt bricht der Skandal der Katholischen Kirche auf – nach 2000 Jahren. Das Ausmaß des Missbrauchs durch Kleriker wird endlich öffentlich. Reich lehnte es zum Beispiel ab,  Kleriker zu therapieren!

Der „hässliche Drache“ der sexuellen Unterdrückung bricht immer noch überall auf, selbst bei Lebensgeschichten, die auf den ersten Blick scheinbar liberal sind – es ist immer wieder unglaublich! Irgendein Großelternteil hat es dann doch noch geschafft, die Schuldgefühle an die Enkelgeneration weiterzugeben.

Obendrein kommt dazu, dass es eine funktionierende Sexualtherapie in diesem Land auf breiter Basis nicht gibt!

Den Kollegen aus dem Tantrabereich, insofern sie diese Aufgabe annehmen und ernst nehmen, bleibt diese Aufgabe.  Natürlich vor allem den Betroffenen selbst.

Als Tantra – Lehrerin habe ich unendlich viel mehr Möglichkeiten als Wilhelm Reich, dessen bioenergetische Übungen für mich unverzichtbar Teil meiner Arbeit sind. Tantra selbst wirkt allein durch seine Werte heilend auf den Klienten: Sexualität ist nicht nur natürlich, sondern heilig. Aber der Weg von einer leicht bis schwer gestörten Sexualität bis zum Tantriker ist weit, aber absolut lohnend. Tantra hat natürlich auch noch vielmehr Übungen, die Sexualität zu wecken, zu kanalisieren, zu kultivieren als die Bioenergetik, die aber auf sehr effektive weise sehr schnell bewusst machen kann, wo im Körper die Blockade sitzt.

Reich konnte aber seine Klienten nie bei sexueller Aktivität beobachten – in der Tantragruppe ist das sehr wohl möglich. In der Verbindung moderner und tantrisch – traditioneller Methoden ist eine Heilung möglich. Vor allem aber ist die Eigenintiative des Betroffenen wichtig, Eigenverantwortlichkeit für den Orgasmus, die eigene Sexualität und das eigene Leben zu übernehmen, nicht zu stolpern, wenn es schwierig wird, Schmerz und Angst hochkommen, die Tiefe der frühkindlichen Konditionierung im eigenen Unterbewusstsein zu erkennen, mutig die ganze Kraft der eigene Lebensenergie auszubuddeln und zu leben – auch wenn es dann manchmal gegen soziale Normen geht.

Es gibt Theoretiker, die sagen, dass der Orgasmus die Belohnung dafür ist, dass wir sterblich sind. Gibt es hier irgendjemand, der sich eine Belohnung nicht abholen will?

 

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