TOD UND WIEDERGEBURT

(Der folgende Artikel ist vor inzwischen weiteren fast dreißig Jahren erschienen, hat aber von seiner Aktualität nichts eingebüßt. Vom 29.Oktober bis 4.November 23 findet das nächste Seminar diesen Inhalts wieder statt. Inzwischen bin ich 74, dem großen Tor näher als damals. Die Endlichkeit meiner Tage ist mir mehr bewusst denn je – ein Tag wird der letzte sein, ein Atemzug der letzte und ich will vorbereitet sein. Mein Partner Hermes ist 2009 verstorben an Morbus Hodge. Andere Männer  sind vestorben an den unterschiedkichsten Ursachen: Gehirnanuerisma, tödlicher Unfall, Lungenkrebs.)

Als mein Vater starb vor über zwanzig Jahren, befand er sich im Krankenhaus. Obwohl sein Todeskampf viele Stunden dauerte, rief das Personal weder meine Mutter noch mich an, obwohl ich sehr nah am Krankenhaus wohnte und ihn täglich besucht hatte. Ich erinnere mich noch gut an den letzten Blick, den wir miteinander austauschten: wir hielten uns die Hände, seine braunen Augen hatten große Tiefe, Stille herrschte zwischen uns. Das war am Nachmittag seines Todestages, in der Nacht sollte er sterben. Er war sehr krank und litt sehr. Während ich mir diesen Augenblick in Erinnerung rufe, treten mir die Tränen in die Augen, obwohl unsere Beziehung sehr problematisch war. Ich weine nicht, weil er gestorben ist, sondern darüber, wie er gestorben ist: in der anonymen Umgebung des Krankenhauses, ohne die Anwesenheit seiner Frau, seiner Töchter, seiner Freunde. Ein Priester kam auch nicht an sein Totenbett, weil er ein Freidenker war, keiner Kirche angehörte und auch in seiner Todesstunde nicht nach den Tröstungen der Kirche rief.
Sein Tod war leider ein Abbild dafür, wie die moderne Gesellschaft mit dem Tod umgeht: klinisch, ohne Würdigung der Bedeutung, die der Tod hat – führt er uns doch unerbittlich die Vergänglichkeit des Körpers vor Augen – eine Tatsache, die in unserer materialistisch orientierten Gesellschaft mit ihrer Verherrlichung des Jungen und Dynamischen gerne verdrängt oder banalisiert wird.
Auch in meiner eigenen Familie wurde ich lächerlich gemacht, als ich allen Ernstes meinem Vater die Lektüre des tibetanischen Totenbuches vorschlug, als sich abzeichnete, dass seine Krankheit in den Tod münden würde. Ich war noch jung und naiv, war gerade von meinen ersten großen Abenteuern in der Welt zurückgekehrt, als Vegetarierin und angehaucht von östlichen Religionen, dem Kriya-Yoga nach Yogananda und eben der Lektüre des tibetanischen Totenbuchs, das ich mir so enthusiastisch einverleibt hatte, dass ich nachts fürchterliche Träume hatte vom rauchfarbenen Loka (Bewusstseinsebene im Bardo), über das der Todesgott Yama herrscht. Musik, auf Menschenknochen gespielt, rauschte mir im Traum durch das Bewusstsein. Ich sah meine Taten als weiße und schwarze Steine auf seiner untäuschbaren Waage, sah wie eine Feder darüber entscheiden konnte, auf welcher Ebene des Bewusstseins ich entweder noch im Bardo (Reich zwischen Tod und Wiedergeburt) verweilen durfte, oder welche Art der Wiedergeburt in der Welt der Menschen ich mir zu vergegenwärtigen hatte. Aber auch die tröstliche Botschaft vom Eintauchen in das große weiße Licht im Augenblick des Todes war mir ins Herz gesunken – und wie wichtig es sei, sich auf diesen Moment vorbereitet zu haben, damit das Bewusstsein gesammelt und konzentriert auf die Reise in jenes Reich geht, von dem noch niemand zurückgekehrt ist. Deshalb schlug ich meinem Vater eine solche Lektüre vor und sagte: „Du wirst bald ins große, weiße Licht eintauchen!“ Meine Mutter und meine Schwester waren entsetzt darüber, dass ich das Offensichtliche so ansprach. Sie brachten ihm für die letzten Tage seines Lebens Kuchen und Kreuzworträtsel mit! Ich konnte es nicht fassen, und in dieser Sache wie in so vielen anderen herrschte Unverständnis zwischen uns. An seinem Grab und während der folgenden Feier redeten wir fast kein Wort miteinander außer dem Nötigsten. Der Anblick der aufgebahrten Leiche hatte mich mit Entsetzen erfüllt: kein Ausdruck des Friedens in seinem Gesicht, seine Kiefer klafften auseinander, offenbar war die Leichenstarre eingetreten, bevor das Personal ihn gefunden hatte!

Jahre später, als ich Sannyasin wurde, mit vielen Therapieansätzen in Berührung kam und in Tantra ausgebildet wurde, fiel mir auf, dass wir uns in der Primärtherapie mit der Kindheit auseinandersetzen, im Rebirthing mit dem Geburtstrauma, in der Reinkarnationstherapie mit früheren Leben, in der Pränataltherapie mit dem Erleben des Fötus im Mutterleib; im Tantra mit Liebe, Sex, Eros beschäftigten, mit dem feinstofflichen Körper in der Energie- und Chakra-Arbeit, in der Bioenergetik mit den Blockaden im grobstofflichen Körper – aber eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Tod schien mir zu fehlen. Selbstverständlich sind wir in der Therapie ständig bemüht, die Menschen zum Loslassen aufzufordern – aber das ganz große Loslassen, nämlich das Ende des physischen Körpers, wird nicht so gründlich angeschaut. Dann studiere ich tantrische Schriften, buddhistische, hinduistische und natürlich immer wieder Osho zum Thema Tantra, zum Thema Tod. Nach acht Jahren Tätigkeit im Gruppenraum kam die Zeit, meine eigene Jahresgruppe zu kreieren. Mir war klar geworden, dass unsere Gesellschaft nicht nur den Sex verdrängt, obwohl er uns von jeder Plakatwand anschaut, sondern auch den Tod, obwohl uns jeder normale Fernsehabend reichlich Leichen beschert.

Das Prinzip der Totalität gefiel mir, und der Gedanke, dass ein total gelebtes Leben auch den Tod leichter macht. In einer Veeresh-Gruppe hieß es: „Stell dir vor, du wirst morgen sterben und heute ist der letzte Tag deines Lebens!“ Da war das Leben gleich noch intensiver, und ich bin ein wenig vernarrt in Intensität. So kam ich auf den Gedanken, den ganzen Zyklus des menschlichen Lebens in dieser Jahresgruppe abzubilden, also auch eine Todesgruppe mit einzuschließen. Nach dem Studium des „Königsliedes von Saraha“ und anderer tantrischer Schriften war mir klar, dass der Tod ein sehr tantrisches Thema ist, lebte doch auch Saraha mit seiner Pfeilmacherin in tantrischer Liebe im Anblick eines Friedhofs, der ihn und seine Shakti immer an die Vergänglichkeit alles Körperlichen erinnerte. So fiel mir auf, dass die asiatischen Religionen die Vergänglichkeit des Irdischen oft so sehr betonen, dass sie todesorientiert sind und das irdische Leben verneinen. Die Menschen in diesen Kulturen empfinden Abscheu für das „Samsara“ (die vergängliche, deshalb täuschende Welt der körperlichen Phänomene) und nehmen in dieser Welt ein Schicksal hin, zum Beispiel als Kastenloser, in Armut, Unterdrückung und Dreck, ohne gegen die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit aufzubegehren – ihr „Karma“ aus einem früheren Leben hat es so eingerichtet! Hier, in unserer Kultur dagegen, kümmern wir uns allzu einseitig um das Diesseits und seine Belange: die Bequemlichkeit des Körpers, Geld, Macht, Ruhm, wir „machen“ immerfort und halten nicht inne, um uns auch darüber klar zu werden, dass „das letzte Hemd keine Taschen hat“!
(Obwohl auch das Christentum sehr todesorientiert ist, fehlt das Dogma der Reinkarnation. Yamas Todesreich hat Ähnlichkeiten mit dem Jüngsten Gericht, aber es gibt kein Bardo, weil es keine Wiedergeburt gibt. Wie auch immer, die Religion spielt in unserer Kultur heute eine geringere Rolle als in Ländern des Islam oder des Hinduismus, wir sind in einem viel besungenen Wertewandel mit allen Vor- und Nachteilen: mehr Freiheit für das Individuum, aber auch mehr Konfusion.)
Tantra, so wie ich es verstehe, liebt das Leben und den Körper, nimmt den Körper als Geschenk, nicht als Strafe oder Illusion, liebt die Ego-sprengende Liebe, kultiviert die körperliche Liebe als Schubkraft des Spirituellen mit dem Wissen um die geheimnisvolle Kundalini und wie man sie stimuliert. Aber es weiß auch um die Vergänglichkeit des Körpers, liebt das Leben vielleicht deshalb umso mehr, hat eine „Landkarte“ für den feinstofflichen Körper mit den Chakren, und weist mit der Kosmologie der zyklischen Dynamik über alle Körperlichkeit hinaus – auf jenen schwarzen Tunnel hin, dem viele Nahtoderfahrungen berichten, den wir Tod nennen. Tantra weiß, dass Leben und Tod eins sind, nicht zwei! Dass jedes Einatmen Leben ist, jedes Ausatmen Tod; dass wirklich jeder tiefe Orgasmus der Tod des Egos ist: es muss seine Kontrolle aufgeben. Jedes Einschlafen ist eine Art Tod, jeder schmerzliche Verlust in unserem Leben ist wie Sterben, unser Leben ist gespickt mit emotionalen Toden. Im Verlauf unseres Lebens sterben Träume, Vorstellungen, Illusionen – und sie sterben nicht leicht!
So entwickelte ich die Struktur dieser Gruppe. Die intensiven Tagebuchträume meiner jungen Jahre kamen mir zu Hilfe. Es ging mir dabei um die existentielle Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit, Sterben und Tod; und außerdem um die Idee, dass im Verlauf eines inneren Wachstums es ja auch immer wieder darum geht, alte Muster, alte Ängste loszulassen, das heißt sterben zu lassen, um dann, innerlich erneuert, „neu geboren“, das Leben in vertiefter Weise zu genießen, das eigene schöpferische Potential zu entwickeln, sich tiefer fallen zu lassen in der Liebe, dem eigenen Wesenskern näher zu kommen. So kam die Idee des Wiedergeburtsrituals.
Leben, Liebe und Tod sind das einzig wirklich Wichtige in der menschlichen Existenz – was sonst? Um diese Wahrheit zu leben, dafür besuchen die Menschen Tantra-Gruppen – oder andere!
Zu Hilfe kam mir der Umstand, dass ich einen einzigartigen alten Totenschädel aus Bhutan erwerben konnte, der, reichlich mit Silber verziert, angeblich selbst einem tantrischen Meister gehört hatte, als jener noch am Leben war. In einer magischen Tarot-Sitzung fand ich einen Namen für ihn: Tokul. Er führt das ganze Jahr ein „Leben“ im Verborgenen und wird nur für das Todesritual im November herausgeholt. Das Todesritual findet am Abend des zweiten Tages in der Gruppe statt. Während dieser zwei Tage haben sich die Teilnehmer noch einmal tief in den Körper begeben – mit Atmen und Bioenergetik, damit die 36stündige Reise im Bardo nicht durch allzu viel motorische Unruhe gestört wird. Sie haben sich auf das Thema vorbereitet, indem sie sich ganz klar vor Augen führen, welche Ängste vor dem Leben und der Liebe sie sterben lassen wollen – mit aller Inbrunst ihrer Seele, derer sie fähig sind, aus Durst zur Wahrheit ihres Lebens. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es besser ist, eine tiefe Grundangst sterben zu lassen, als eine lange Liste.

Zum Ablauf des Todesrituals:
Der ganze Raum wird abgedunkelt und schwarz geschmückt, alle Teilnehmer und der Staff natürlich auch, sind schwarz gekleidet, die Matten schwarz bezogen. In diesem Ritual sind die Menschen nicht geschmückt oder geschminkt. Zuerst intonieren wir 108-mal ein Mantra gegen die Todesfurcht:

A U M
Surya-putraya vidmahe
Mahakala-ya dhi-mahi
tanno yamah prachodayat

Dann reichen wir statt des üblichen Aphrodisiakums einen bitteren Damiana-Tee, der hilft, wach und aufmerksam zu bleiben. Danach Zu Hilfe kam mir der Umstand, dass ich einen einzigartigen alten Totenschädel aus Bhutan erwerben konnte, der, reichlich mit Silber verziert, angeblich selbst einem tantrischen Meister gehört hatte, als jener noch am Leben war. In einer magischen Tarot-Sitzung fand ich einen Namen für ihn: Tokul. Er führt das ganze Jahr ein „Leben“ im Verborgenen und wird nur für das Todesritual im November herausgeholt. Das Todesritual findet am Abend des zweiten Tages in der Gruppe statt. Während dieser zwei Tage haben sich die Teilnehmer noch einmal tief in den Körper begeben – mit Atmen und Bioenergetik, damit die 36stündige Reise im Bardo nicht durch allzu viel motorische Unruhe gestört wird. Sie haben sich auf das Thema vorbereitet, indem sie sich ganz klar vor Augen führen, welche Ängste vor dem Leben und der Liebe sie sterben lassen wollen – mit aller Inbrunst ihrer Seele, derer sie fähig sind, aus Durst zur Wahrheit ihres Lebens. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es besser ist, eine tiefe Grundangst sterben zu lassen, als eine lange Liste.

Zum Ablauf des Todesrituals:
Der ganze Raum wird abgedunkelt und schwarz geschmückt, alle Teilnehmer und der Staff natürlich auch, sind schwarz gekleidet, die Matten schwarz bezogen. In diesem Ritual sind die Menschen nicht geschmückt oder geschminkt. Zuerst intonieren wir 108-mal ein Mantra gegen die Todesfurcht:

A U M
Surya-putraya vidmahe
Mahakala-ya dhi-mahi
tanno yamah prachodayat

Dann reichen wir statt des üblichen Aphrodisiakums einen bitteren Damiana-Tee, der hilft, wach und aufmerksam zu bleiben. Danach liest jede(r) Teilnehmer(in) von einem mitgebrachten Blatt vor, was er oder sie sterben lassen möchte. Dieses Blatt wird dann zerknüllt in eine Zeremonienschale am Altar gelegt. Sind alle Blätter gesammelt, werden sie rituell verbrannt; symbolisch sehen die Menschen, wie ihre Ängste im geistigen Feuer verbrennen, um Asche zu werden. Dieser Vorgang alleine löst bei manchen einiges aus. Daraufhin strecken sie sich mit einer Augenbinde auf dem Lager aus. Dann lasse ich sie in ihrer Vorstellung ihr zukünftiges Leben durchlaufen: wie sie älter werden, wie ihre Eltern sterben werden, wie sie vielleicht Großeltern werden, wie sie in den Ruhestand treten, wie vielleicht auch Freunde sterben, wie ihre eigenen Kinder auch graue Haare bekommen, bis … … sie sich selbst auf dem Totenbett sehen. Innerlich schauen sie, wer vermutlich an ihrem Totenbett steht.

Dann werden sie gebeten, sich noch einmal, mit verbundenen Augen, aufzusetzen. Nachdem ich ihnen gesagt habe, dass ihnen gleich „ein Freund“ auf die Schulter klopfen wird, kommt Tokuls Erscheinen: die Tempeldiener gehen zu zweit zu jeder Person, eine steht vor ihr und hält den Tokul auf einem Ritualtablett, geheimnisvoll beleuchtet. Bis dahin hat ihn niemand gesehen, er war unter einem schwarzen Tuch verborgen am Altar. Der andere Tempeldiener klopft sachte auf die Schulter und zieht gleichzeitig die Augenbinde hoch: sie blicken symbolisch dem Tod ins Auge. Oft weiten sich die Augen beeindruckt, es tritt noch einmal erhöhte Wachsamkeit ein. Anschließend kommt die Augenbinde wieder an ihren Platz, die Menschen legen sich wieder hin, dann simuliere ich mit Worten und Musik den Sterbeprozess nach dem tibetanischen Totenbuch durch die vier Elemente: die Erfahrung von Hitze, das Gefühl zu verbrennen…, der Körper löst sich auf im Feuer, es wird immer trockener und trockener, ausgedörrt wird die Lebenskraft; dann kommt das Gefühl von Nässe, alles wird dem Gefühl nach feucht
und feuchter, auch kälter, der Körper löst sich in Wasser auf, Körpergefühle werden weggespült, weggeschwemmt. Dann kommt der Wind, er weht überall hin, dringt in jede Pore, alles wird leichter und leichter, porös, das Körperlich wird in alle Himmelsrichtungen getragen, verstreut, aufgelöst in Luft; zuletzt kommt das Gefühl der Schwere, so schwer, dass der Geist sich vom Körper lösen muss, weil er eins wird mit der Erde, aus der er geboren ist, die ihn ernährt und getragen hat, aber auch zu sich zurücknimmt, was sie gegeben hat. Mit den letzten Worten schicke ich ihren Geist symbolisch ins Bardo, in die Welt zwischen Tod und Wiedergeburt.

Dann werden die Lichter gelöscht und die mitgebrachten Ohrstöpsel in die Ohren gesteckt, damit sie in der Folgezeit so wenig wie möglich Geräusche von außen wahrnehmen, und die Menschen bleiben 36 Stunden in ihrem „Grab“. Sie dürfen sitzen oder liegen, aber keine Körperübungen machen, die Augenbinde nicht abziehen. Selbstverständlich sind die ganze Zeit über Tempeldiener im Raum, die die Teilnehmer zur Toilette führen, wenn es nötig ist. Im dunklen Raum machen sich die Bardo-Passagiere mit einem Fingerschnippen bemerkbar, auch wenn sie Durst haben, dann gibt es Kräutertee oder Wasser; oder wenn sie Hunger haben, dann bekommen sie eine Frucht oder einen Müsliriegel. Aber für die Raucher gibt es keine Zigaretten, und wenn es irgendwie geht, auch keinen Dialog mit den Tempeldienern, außer dem nötigsten. Die Idee dahinter ist, für eine extrem lange Zeit keine Sinneseindrücke zu haben, damit der Geist gar nicht anders kann als nach innen zu gehen. Außerdem verwischt sich Tag und Nacht, die Möglichkeit intensiv zu träumen ist da, die Gelegenheit zu meditieren und zu kontemplieren, das Leben an sich an sich vorüber gleiten zu lassen…, sich klar zu machen, dass dieses Leben nicht ewig dauert, dass nicht alles reversibel ist, wovon man es sich wünschen würde, und vor allem eins: dass im Angesicht der Erinnerung an den immerwährend drohenden Tod sich vielleicht die Prioritäten gegenüber dem Alltagsbewusstsein verschieben.
Diese Zeit ist für den Staff auf eine ungewohnte Art, den Rhythmus der Wachen, anstrengend. Natürlich wird auch für die Frauen gesorgt, die menstruieren, oder wenn ein Kranker dabei ist, für die Medikamente. Ich lese in dieser Zeit die Tagebücher, die während der anderen Abschnitte der Jahresgruppe geführt wurden, um die Menschen so gut wie möglich bei der Gestaltung ihres Wiedergeburtsrituals unterstützen zu können, ihren Prozess besser zu verstehen.
Nach 36 Stunden werden die Teilnehmer am Morgen extrem sensibel mit einem Erweckungsritual wieder in die Welt der Sinne geholt: sie werden flüsternd gebeten, sich aufzusetzen, immer noch mit verbundenen Augen. Dann wird jeder Sinn, entsprechend der Reihenfolge der Chakren, nach und nach geweckt. Zuerst wird mit Düften das Riechen stimuliert, dann werden sie mit leckeren kleinen Häppchen gefüttert, das Schmecken erwacht… Danach dürfen sie die Augenbinde abnehmen und schauen als erstes in eine geöffnete Blüte. Wir nehmen dann allmählich die Verdunkelung der Fenster weg. Die Gabe des Sehens wird ganz neu erfahren. Zuletzt werden die Ohrenstöpsel entfernt: Musik ertönt, Klangschalen lassen das Hören nach tagelangem Verstummen der Geräusche wieder zu. Das Leben hat die Menschen wieder. Die Sinne sind ein Geschenk.
Dann Jubel: eine heiße Dusche, ein kräftiges Frühstück.
Was hat jeder im Bardo erlebt? Sonst bin ich kein Freund von langen Sharings, aber dieses ist nötig und auch interessant. Jeder hat etwas anderes erlebt.
Immer wieder ist einer dabei, der die ganze Zeit nur durchgeschlafen hat. So übermüdet und überfordert leben manche Menschen ihr Leben. Manche hätten das Bardo-Experiment gerne noch ausgedehnt.
Andere wieder erfahren eher ein Uterus-Gefühl: es wird für sie gesorgt, sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Viele haben auch die erstrebten Zwischenzustände von Träumen und Meditation erlebt und erzählen davon: ein Schlüssel zu Botschaften des Bewusstseins, mit der Interpretation sind wir aber ganz vorsichtig und versuchen eher, die Botschaft der inneren Bilder auch einmal stehen zu lassen und nicht sofort in verdauliche Verstandeshäppchen umzusetzen. Ein Thema kommt aber auch immer wieder hoch: mit Selbstmordgedanken haben sich offensichtlich irgendwann einmal – meistens während der Pubertät – mehr Menschen schwer getan, als man gemeinhin annimmt.
Ohne die Todesgruppe wäre mir das in der Form nicht aufgefallen. Auch Selbstmorde in der Familie der Betroffenen kommen zur Sprache, andere Todesfälle, meistens die Großeltern: die erste Begegnung mit dem Tod in der Kindheit. Falls ein Elternteil während der Kindheit gestorben ist, kommt noch einmal ein tiefes Berührtsein hoch, aber auch Wut! Ein Kind fühlt sich zu Unrecht verlassen, auch wenn der Vater zum Beispiel an einer schweren Krankheit gestorben ist.
Dann beginnt die Vorbereitung für die Wiedergeburtsrituale. Jeder hat 45 Minuten Zeit, in der ihm oder ihr die ganze Gruppe, der Staff, alle Ritualgegenstände und natürlich Musik zur Verfügung stehen. Mir ist ganz wichtig dabei, dass die Menschen ihre Wiedergeburt selbst gestalten.
Das Tarot wird gefragt: was wäre die sinnvollste Gestaltung für mein Ritual? Da die Karten selbst noch einmal Bilder sind, geben sie oft auch für sie szenische Umsetzung die Idee.
Dann wird der Raum ganz in Weiß geschmückt, wir kleiden uns alle weiß, haben weiße Blumen, richtiges Aphrodisiakum fließt in Strömen für zweieinhalb Tage und Nächte.

Der Inhalt dieser Rituale ist so vielfältig wie die Individualität der Menschen:
kathartisch, erschütternd, sinnlich, wunderschön, ergreifend, erotisch, lustig, traurig, dramatisch, meditativ, erlösend. Der innere Reichtum, der in jedem Menschen steckt, wird sichtbar. Während ich schreibe, treten mir die Tränen in die Augen, während die Bilder aus fünf Jahresgruppen durch mein Herz und mein Gehirn jagen. Keine Gruppe, an der ich je teilgenommen oder assistiert habe oder die ich geleitet habe, hat einen so großen therapeutischen Wert für mich selbst – immer wieder. Wir kommen alle so an unsere Grenzen, Teilnehmer, Staff und ich, lernen so viel über die Menschen und die Höhen und Abgründe des Menschseins!

Viele gestalten den Weg ihres Lebens in einer Art Theater nach, die schlimmsten Qualen der Kindheit werden noch einmal dargestellt. Da senkt sich manchmal atemlose Stille über die Runde:
Wie sich einer selbst gefesselt hat im Kinderbett und Kissen auf die Augen und vor die Ohren gebunden hat, um sich zu schützen vor den Schritten eines elterlichen nächtlichen Bestrafungsrituals, vor sexueller Belästigung, oder vor dem Zwang, onanieren zu wollen. Dann möchte er geboren werden in eine Welt der befreiten, heiligen Sinnlichkeit: alle Frauen streicheln ihn nackt und heißen ihn willkommen in der Welt des Eros.

In manchen Gruppen spielt Tokul eine prominente Rolle bei der Wiedergeburt: er hat zu den Menschen „gesprochen“; d.h. der Tod hatte eine verbale Botschaft für sie: „Lebe, jetzt oder nie! Halte dich nicht auf mit Halbheiten, vergeude dein Leben nicht, es ist kostbar!“ zum Beispiel.
Viele wollen sich aus großer Höhe in die ausgestreckten Arme der Gruppe fallen lassen und dann getragen werden. Viele heilen ihre Verletzungen mit dem anderen Geschlecht. Wonach der Mensch sich sehnt, ob Mann oder Frau, älter oder jünger, Stier, Skorpion oder sonst ein Sternzeichen ist immer wieder ähnlich: „Ich will so geliebt werden, wie ich bin!“
Eines der bewegendsten Rituale war das meines Ex-Partners Hermes, der ein Leben lang homosexuell war und bis dahin noch nie mit einer Frau geschlafen hatte. Er hatte sich gewünscht, dass ein Paar aus der Gruppe seine Zeugung darstellt. Sie sollten sich auf den kleinen Michael freuen und die Schwangerschaft begrüßen – im Unterschied zu seiner realen Geburt: seine Mutter war damals sechzehn, den Vater hat er nie kennen gelernt.
Das Paar simulierte also zu diesem Zweck die sexuelle Vereinigung. Dann spielten sie, dass die Frau die Verhütung vergessen hätte und schwanger sei. Der „Vater“ freute sich. Die „Mutter“ hatte keine Mühe, die Presswehen zu simulieren. Hermes schaute die ganze Zeit zu, und wir gaben unser Bestes, mit Musik und Worten die Geschichte seines Werdens zu unterstützen. Sie „gebar“ ihn also; in diesem Augenblick wollte er sich zwischen ihre Beine legen, mit dem Rücken zuerst. Da ich wusste, dass er sich vor weiblichen Genitalien ekelte, nahm ich ihn in diesem Moment an den Schultern, drehte ihn herum, so dass er die Vagina der Frau sehen musste und sagte: „ Da kommst Du her!“ Die folgende Katharsis war unbeschreiblich. Im sanften Ausklang, nachdem sich alles beruhigt hatte, sollten wir ihm alle etwas Gutes für sein Leben wünschen. Ich wünschte ihm, dass er vielleicht irgendwann einmal genießen könne, mit einer Frau zu schlafen. Dass ich diese Frau sein würde, ja dass er sogar mein Partner werden würde, das war damals nicht zu ahnen… Er wurde als „stinknormaler“ Mann dann noch „geboren“, ja im gewissen Sinne ist dieser Prozess immer noch aktiv, drei Jahre später.

Den Teilnehmern wird dann klar, dass die Reise nie aufhört, dass ein echter Transformationsprozess immer die Qualitäten von Tod und Wiedergeburt hat, aber dieser Gedanke macht keine Angst mehr, sondern einfach Lust auf das Abenteuer des Menschen. Ich habe die Todesgruppe auch für mich selbst in das Programm gesetzt – dadurch werde ich mich einmal im Jahr mit dem Tod konfrontiert.
Letztes Jahr hatte ich eine Vision von mir selbst mit siebzig Jahren, aufrecht immer noch, mit dicken langen Haaren, aber vollkommen ergraut und – eben eine Greisin: ich war erschüttert, die Unerbittlichkeit des Alterns trat erneut in mein Bewusstsein. Wie gerne verdrängen wir doch und denken, vor allem als junge Menschen: sterben ist für die anderen.
„Ein Kadampa-Geshe wurde einmal gefragt: ‚Bitte erkläre uns, welche von allen Übungen die wichtigste ist.’ Er antwortete: ‚Die Meditation über die Unbeständigkeit.’ ‚Warum ist sie so wichtig?’ ‚Zu Beginn verschafft sie uns Zugang zum Dharma (Lehre), in der Mitte beflügelt sie die Praxis; am Ende führt sie zur Vergegenwärtigung der Wesensgleichheit aller Erscheinungen.’
„Die Praxis des Tantra“ von Khetsün Sangpo Rinpoche